Feldhasen

In manchen norddeutschen Familien auf dem Land war es früher üblich, am Ostersonntag mit dem Suchen der Eier nicht eher zu beginnen, bevor die Kinder beim Spaziergang einen Feldhasen gesehen hatten. Der war dann der Beweis dafür, dass der Osterhase tatsächlich seine Aufgabe erledigt hatte. Noch Mitte der 1960er Jahre dauerte es meistens nicht sehr lange, bis am Wegrand eines der langläufigen Tiere aus seiner Sasse fuhr und davon hoppelte. Oder auf dem nahen Feld jagten sich gegenseitig mehrere Hasen in hellem Tageslicht: Im Frühling nämlich freien die Männchen ( von den Jägern als Rammler bezeichnet ) um die Gunst der Häsinnen und verlieren dabei oft jegliche Scheu. Vor allem brechen sie mit ihrer sonstigen Gewohnheit, erst in der Dämmerung ihr Tagesversteck zu verlassen, um sich bevorzugt bei Nacht auf Nahrungssuche zu begeben und in ihrem bis zu 50 Hektar großen Heimatrevier umzutun. Bis etwa 1965 mussten die Kinder also nicht lange warten, bis sie mit der Suche nach den bunten Eiern beginnen konnten. Denn Hasen gab es überall und reichlich. Heute blieben viele Nester und Körbe leer, müsste erst ein echter Hase in der Natur gesichtet werden, bevor einer aus Schokolade mit den dazu gehörigen Süßigkeiten gesucht werden dürfte. Denn die Zahl der Feldhasen hat in der Vergangenheit rapide abgenommen. Das lässt sich am besten an den jährlichen Jahresstrecken der Jäger ablesen und wird seit einiger Zeit durch regelmäßiges "Monitoring", dem in festgelegten Abständen wiederholten Zählen von Tieren in bestimmten Referenzgebieten nach einheitlichen Kritierien, bestätigt. Im Jahr 1936 wurden im damaligen Deutschland knapp drei Millionen Hasen geschossen, im Jagdjahr 1964/65 ( ein Jagdjahr dauert immer vom 1.April bis zum 31. März des Folgejahres ) kamen 1,6 Millionen zur Strecke, 1992/93 waren es noch knapp 561000 und 2010/11 nur mehr 367.321 Tiere. In Bayern etwa halbierte sich zwischen zwischen 1907/08 und 2010/11die Strecke fast um die Hälfte auf knapp 76.000 und erreichte damit den tiefsten Stand seit dem Beginn der Aufzeichnungen.

Kurz vor Ostern teilte der Deutsche Jagdschutzverband mit, dass nach jüngsten Auswertungen des Wildtier- Informationssystems der Länder Deutschlands (WILD) aus 400 Wildzählgebieten hierzulande durchschnittlich 12 Hasen pro Quadratkilometer ( 100 Hektar ) leben und der Gesamtbestand damit mindestens vier Millionen Hasen betrage. Im letzten Jahr habe die Population aber weiter um knapp zehn Prozent abgenommen. Dabei ist die "Hasendichte" recht unterschiedlich verteilt. Die Hasenzähler, die bei Dunkelheit mit dem Auto in ihren Revieren bestimmte Strecken abfahren und die Umgebung mit starken Suchscheinwerfern ableuchten, sind im Südwesten erfolgreicher als im Nordosten. Während in der Oberrhein-Tiefebene bis zu 150 Hasen auf 100 Hektar vorkommen können, sind es in Brandenburg weiträumig nicht einmal fünf. Im westlichen Schleswig-Holstein leben in der von Grünland dominierten Marsch 25 Hasen pro 100 Hektar, auf der mittleren Geest zwölf bis 15. Vielerorts schwanken die Zahlen stark. Das hängt mit dem Klima und dem Nahrungsangebot zusammen. In Nordrhein- Westfalen wurden in manchen Revieren schon 242 Hasen pro Quadratkilometer gezählt. Dort werden Jäger dafür gesorgt haben, dass die Beutegreifer wie Fuchs und Hermelin kaum Beute machen konnten, aber auch Rabenvögel und - nicht selten illegal - geschützte Greifvögel kurz gehalten wurden.

Der Feldhase hat es nicht nur wegen vieler natürlicher Feinde schwer, sein mögliches Höchstalter von zwölf Jahren zu erreichen. Die meisten werden nicht einmal zwei Jahre alt. Die Jäger fügen ihnen noch die geringsten Verluste zu, indem sie nicht einmal zehn Prozent des Besatzes abschöpfen. Kalte Winter und längere Regenperioden, ansteckende Krankheiten wie die weit verbreitete Kokzidiose, das ist eine Darminfektion mit Kokzidien, winzigen Sporentierchen im Verdauungstrakt, der Straßenverkehr mit mindestens 50.000 Tieren pro Jahr und - als größter Verlustfaktor - die moderne Landwirtschaft raffen jährlich die Hasen reihenweise hin. Dabei ist "Lepus europaeus", der Europäische Feldhase, mit seinen 22 Unterarten von Natur aus mit vielen Fähigkeiten zum Überleben ausgestattet. Ursprünglich aus den südöstlichen Steppengebieten nach Mitteleuropa eingewandert, konnte er sich dank einer umweltverträglichen extensiven Acker- und Weidebewirtschaftung prächtig entwickeln. Mit seinem braungrauem Balg (Fell) ist er vor zudringlichen Blicken und unerwünschtem Zugriff gut getarnt. Die meiste Zeit des Tages verbirgt sich der Hase in seiner "Sasse", einer flachen selbst gescharrten oder im Pflanzenwuchs niedergedrückten Mulde. Um sich und sein von Tag zu Tag wechselndes Versteck nicht durch körpereigene Düfte (Wittrung) zu verraten, springt er nach einigem Verwirrung stiftenden Hin- und Herhoppeln seitlich mit einem großen Satz in Deckung. Aus ihr hat er seine Umgebung dank seiner großen seitlich am Kopf angebrachten Seher (Augen) rundum, also 360 Grad, unter Kontrolle. Bei Gefahr drückt er sich mit angelegten Löffeln (so nennt der Jäger seine 15 Zentimeter langen Ohren) an den Boden, um erst im letzten Augenblick "aus der Sasse zu fahren" und als Angsthase hakenschlagend das Hasenpanier zu ergreifen. Auf der Flucht können die Hasen kurzfristig mit ihren langen Läufen (die hinteren Beine sind länger als die vorderen) eine Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern erreichen.

Eine hohe Fruchtbarkeit sorgt für zahlreichen Nachwuchs: Weibliche Hasen werden im Alter von sechs Monaten geschlechtsreif, die Männchen einige Monate später. Schon Ende Januar beginnt die Paarungszeit (Rammelzeit), und nach einer Tragzeit von nur sechs Wochen setzt die Häsin bis zu fünf Junge in einer etwas vertieften Sasse. Im Gegensatz zu den Wildkaninchen, die mit den Hasen trotz ähnlichen Aussehens nicht verwandt sind und die blind und nackt geboren werden, sind die Junghasen bei der Geburt voll behaart und haben offene Augen.Sie wiegen durchschnittlich 130 Gramm. Schon in den ersten Lebenstagen verlassen die Jungen instinktiv ihren Geburtsort und verteilen sich einzeln in der nähereren Umgebung, um die Entdeckungsgefahr zu minimieren. Dort drücken sie sich in eine Ackerfurche, zwischen das Laub einer Hecke oder unter ein Grasbüschel und warten darauf, dass die Häsin in der Nacht mit dem Klopfen ihrer Läufe zum Säugen ruft. Ihre Milch enthält 23 Prozent Fett und sorgt damit für schnelles Wachstum der Jungen in den ersten 30 Tagen. Spätestens ab dann gibt es Grünfutter. Mit sieben bis neun Monaten sind sie ausgewachsen und haben ein Gewicht von bis zu sechseinhalb Kilogramm ( in Osteuropa bis zu acht Kilogramm) erreicht. Die Häsin paart sich bis zu viermal im Jahr und kann zwischen März und August bestenfalls mehr als zwanzig Junge gebären. Mitunter kommt es zu einer Schachtel- oder Doppelträchtigkeit: Wenn die Jungen eines Satzes noch nicht geboren sind, kann die Häsin bereits erneut befruchtet werden. Selten werden mehr als ein oder zwei Junghasen eines Satzes erwachsen. Immer wieder werden gerade junge Tiere von landwirtschaftlichen Maschinen bei der Feldbewirtschaftung oder der Grünlandmahd getötet.

Die moderne Landwirtschaft ist aber noch in anderer Form stärker als viele Maschinen oder, wie eines der vielen Sprichwörter im Zusammenhang mit Hasen lautet, viele Hunde des Hasen Tod. Große Felder ohne Hecken und Randstreifen, monotone Kulturen, fehlende Brachen, intensive Düngung, auf Masse und nicht auf Vielfalt getrimmtes Grünland, das mehrfach im Jahr radikal gemäht wird - das alles nimmt dem Hasen die Möglichkeit, sich artgerecht zu ernähren. Lebt er in einer naturnahen Landschaft von mehr als 50 verschiedenen Pflanzen, die für einen gesunden Ernährungsmix sorgen, so ist der Tisch für ihn in einer agrarindustriell geprägten Umgebung arm gedeckt. Viele Junghasen scheitern da schon bei der Umstellung von Muttermilch auf Pflanzenkost. Erwachsene Hasen können bei einseitigem Futterangebot keine Resistenzen gegen Krankheiten bilden. Und eine Besonderheit entfaltet auch kaum Wirkung: Hasen nehmen spezielleAusscheidungen ihres Blinddarms in Form von etwas anders geformten "Kötteln" als die ihres Kotes zur nochmaligen Verdauung auf, denn sie enthalten wertvolle Vitamine. Doch die können sich nicht bilden, wenn die Nahrung sie nicht hergibt. Wie schwerwiegend die Folgen der Veränderungen in der Landwirtschaft für die Hasen (und viele andere wildlebende Tiere) waren und sind, lassen sich auch an zwei Vergleichen ablesen: In der früheren DDR wurden 1961 noch 420.000 Hasen geschossen, 1984, nach der Kollektivierung der Landwirtschaft mit ihren großen Feldern wurden gerade noch 10.600 Hasen erlegt. In einem südostschleswig-holsteinischen Revier, in dem 1962 auf einer einzigen Treibjagd von rund zwanzig Schützen gut 250 Hasen auf den Feldern geschossen würden, brächten es genauso viele Schützen und Treiber heute mit Mühe und Not auf vielleicht zehn Hasen.

Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, dass Jäger und Naturschützer dazu aufrufen, wieder mehr staatlich gefördertes Brachland und Programme für eine stärkere Ökologisierung der Landwitrschaft aufzulegen. Doch ökologicher Landbau an sich ist noch kein Überlebensprogramm für den Feldhasen. Wenn im Frühjahr die über den Winter deckung- und nahrunggebenden Grünbedeckungen der Felder für die Neusaaten hergerichtet werden, kommt mancher junge Mümmelmann zu Tode. Nur in Verbindung mit Naturinseln, Ackerrand- und Blühstreifen sind den Tieren sichere Aufenthaltsorte und eine vielseitigere Futterauswahl gewährleistet. Dann auch lassen sich beim Osterspaziergang wieder mehr Hasen beobachten. Warum "Meister Lampe" als Osterhase herhalten muss, ist übrigens bis heute nicht geklärt. Eine Deutung geht auf eine phantasiereich erfundene Frühlingsgöttin "Ostara" zurück, eine andere besagt, dass einem Bäcker ein Osterlamm aus Teig zu einem hasenähnlichen Tier missraten sei und er aus der Not hinfort eine Tugend gemacht habe. Laut Duden findet sich der früheste Beleg für den Hasen als österlichen Eierbringer 1678 in dem Buch "Satyrae medicae" des Heidelberger Medizinprofessors Georg Franck von Franckenau. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts sei der Osterhase in vielen Teilen Deutschlands unbekannt gewesen. Sein Siegeszug ist erst durch die Süßwarenindustrie erfolgt. Der wahre Grund für seine Berufung zum österlichen Botschafter liegt wohl darin, dass der Hase im Frühjahr und damit zu Ostern während der Rammelzeit besonders häufig zu sehen ist, ähnlich wie die Osterlämmer auf der Weide.

C.-A.v.T.

BU 1: Im März und April geht es unter den Feldhasen besonders hoch her. Dann werben die Rammler um die Gunst der Häsinnen, die häufig von mehreren Männchen bedrängt und verfolgt wird. Zwar finden die meisten Aktivitäten bei Dunkelheit statt, doch die Liebe läßt die Tiere auch bei Tage häufig alle Vorsicht vergessen und sie zeigen sich wie auf dem Foto, mit der Häsin in der Mitte, auf einer Wiese.

BU 2: Junghasen, die im zeitigen Frühjahr geboren werden, müssen sich nicht nur vor Fressfeinden, sondern auch gegen die Kälte schützen. Ihr tarnfarbener Wollbalg hilft ihnen dabei, wenn sie die richtige Deckung aufsuchen. Vom ersten der bis zu jährlich vier "Jungensätzen" überleben die wenigsten Tiere die ersten Lebenswochen.