Tausendfacher Tod im hohen Gras

In diesem Frühjahr fallen besonders viele Rehkitze, Junghasen und bodenbrütende Vögel den Mähmaschinen zum Opfer - Neue Rettungshilfen kommen für diese Saison oft zu spät

Hobbyjäger Jens Puhlmann (Name geändert) hat im westmecklenburgischen Landkreis Ludwigslust-Parchim ein 420 Hektar großes Jagdrevier von einer Jagdgenossenschaft gepachtet. Östlich vom Schaalsee gelegen, besteht es aus 335 Hektar Ackerland, rund 75 Hektar Grünland und etwa zehn Hektar Wald, Feldgehölzen und Wegrainen. Sie gehören mehreren Landeigentümern, einige davon bewirtschaften ihre Flächen selbst. Rehe, Wildschweine und wenige Hasen kommen neben Beutegreifern wie Fuchs und Marderhund als „Standwild“ regelmäßig vor, Dam- und Rothirsche lassen sich gelegentlich als „Wechselwild“ blicken.

In diesem Frühjahr ist der jagdlich sehr zurückhaltende und dem Naturschutz zugetane Jäger Puhlmann verärgert und verzweifelt. Es ist ihm nicht gelungen, 60 Hektar der in seinem Revier gelegenen Grünlandflächen rechtzeitig vor dem ersten Grasschnitt durch zwei landwirtschaftliche Pächter nach Jungwild und bodenbrütenden Vögeln abzusuchen und deren Verstecke im hohen Gras zu kennzeichnen, damit sie nicht getötet oder zerstört werden. Er kann nur hoffen, dass auf den verbliebenen fünfzehn Hektar Grünland, die nach ökologischen Vorgaben von deren Eigentümern frühestens Ende Juni erstmals gemäht werden dürfen, das eine oder andere Jungtier oder manche Bodenbrut überlebt haben.

Nur knapp einen Tag vor Mähbeginn wurde er von den beiden Landwirten, die gleichzeitig mit der Mahd begannen, benachrichtigt. Zu kurzfristig, um die großen Flächen mit einem Hund abzusuchen, die Jungtiere aufzuspüren, fachgerecht aus den Gefahrenbereichen herauszutragen und an einem sicheren Platz abzulegen. Gerade blieb noch Zeit, einen Teil der Flächen im Eiltempo mit menschlichen Gerüchen und Hundehaaren zu „verstänkern“. Doch das hat nicht gereicht, um etwa die Ricken zu veranlassen, ihre Kitze aus dem Gras herauszuführen. Am Abend des Mähtages waren mindestens sieben von den Mähmessern getötete Rehkitze zu beklagen – fast der gesamte von der Unteren Jagdbehörde für das ganze Revier vorgegebene Jahresabschuss von neun Tieren.

Besondere Umstände haben zu dieser Katastrophe geführt. Das kurze Zwischenhoch mit wenigen Schönwettertagen um die Monatswende Mai/Juni hat diejenigen Landwirte, die Grünland, also Wiesen und Weiden, bewirtschaften, dazu veranlasst, kurzfristig den ersten Grasschnitt durchzuführen. In ständiger Furcht vor der nächsten Regenfront fuhren zumindest in Norddeutschland fast alle gleichzeitig mit ihren Mähmaschinen innerhalb von zwei Tagen auf ihr Grasland und ließen die Messer kreisen oder sicheln. Da blieb wenig Zeit, die zuständigen Jäger zu benachrichtigen oder gar den Besitzer einer Flugdrohne mit einer Wärmebildkamera zu ordern. So kurzfristig ließen sich auch selten freiwillige Helfer alarmieren, um durch systematisches Absuchen der Flächen das Leben von Tausenden Rehkitzen, Junghasen und am Boden brütenden Vögeln zu retten.

In den 26 Jahren, die der 60jährige IT-Manager Puhlmann sein Revier mit zwei Inhabern von Begehungsscheinen bejagt, hat er derartiges noch nicht erlebt. Die lange Schlechtwetterperiode hat viele Ricken vielerorts veranlasst, die Geburt ihrer Kitze um etwa eine Woche hinauszuzögern, so dass es zu einem solchen zeitlichen Engpass gekommen ist. Den Landwirten ist nur dann ein Vorwurf zu machen, wenn sie nicht die Empfehlungen von Bauern- und Jagdverbänden befolgen: Den Beginn der Mahd dem Jagdausübungsberechtigtem mindestens 24 Stunden vorher anzukündigen, mit dem Mähen von innen der Flächen zu beginnen und eine Schnitthöhe über dem Boden von mindestens 15 bis 20 Zentimetern einzuhalten. Bei der ersten Frühjahrsmahd, die besonders eiweißreiches Gras liefert, halten sich viele Bauern nicht an die empfohlene Schnitthöhe. Um möglichst viel Masse zu ernten, säbeln sie das Gras bis auf die Narbe ab. Wenn es zu Ballen gepresst und mit einer Plastikfolie versehen am Wiesenrand abgelegt ist oder gleich abgefahren wird, ist oft genug der blanke Boden zu sehen und jedwede Deckung und Nahrung für einige Wochen zerstört.

Abgesehen von der Beachtung tierschutzrechtlicher Vorschriften, die oft genug in der landwirtschaftlichen Praxis auf den bearbeiteten Flächen nicht ausreichend eingehalten werden können, wollen die Bauern Mähopfer vermeiden, vor allem dann, wenn sie selber Jäger sind.. Aber auch aus Mitgefühl statten viele ihre Mähmaschinen mit mechanischen Rettungsgeräten aus, deren Wirksamkeit allerdings beschränkt ist. Ein weiterer Grund: Tierkadaver im Grünschnitt verderben die Qualität des Viehfutters und können Krankheiten bei den Nutztieren verursachen.

In jedem Frühling spielt sich erneut ein ungeheures Drama ab: Bei einem bundesdeutschen Bestand von gegenwärtig 1.226,169 Rehen, errechnet aus den Jahresabschüssen und den Verkehrsopfern, die bis zu einem Drittel ausmachen, sterben alljährlich zwischen 30.000 und 60.000, nach manchen Schätzungen bis zu 100.000 frisch gesetzte und bis zu etwa drei Wochen alte Rehkitze einen grausamen Tod. Die von ihren Müttern, den Ricken, im hohen Gras oder im Grünroggen „abgelegten“ und damit besonders tagsüber versteckten Jungtiere in gefleckter Tarnkleidung sind aus den hohen Kabinen der Mähfahrzeuge für die Fahrer nicht sichtbar.

Ob mit Kreiselmäher, einem seitlichen Balkenmäher oder mit einem Frontschneidewerk ausgerüstet: Bei einer Mähgeschwindigkeit von 12 bis 15 km/h haben Jungtiere, die sich instinktmäßig „drücken“, keine Chance, den kreisenden Messern oder den dicken Traktorreifen zu entkommen. Auch im Grünroggen, der vor der Reife für Agrargasanlagen zur Bildung von Silage früh geerntet wird, ist die Zahl grausam verstümmelter Opfer hoch. Viele sind nicht gleich tot, sondern sterben mit abgetrennten Gliedmaßen nach qualvollen Stunden. Manche werden erst beim Heuwenden mit ebenfalls schnellen Maschinen entdeckt.

Früher, als mit von einem Pferdegespann gezogenen Balkenmäher sehr viel langsamer und in schmalerer Breite das Gras geschnitten wurde, gab es wenige Verluste beim Jungwild. Die Zugpferde vor dem Mäher blieben meistens stehen, wenn sie vor sich Tiere im Gras entdeckten. Und die Kutscher auf ihren niedrigen Freiluftsitzen sahen bei der Schrittgeschwindigkeit vielmehr als die heutigen Maschinenlenker in ihren klimatisierten Führerhäusern. Oft sind es Rabenkrähen, Kolkraben oder Greifvögel, Weißstörche und Graureiher, die frisch gemähtes Gras- und Roggenland absuchen und sich über die toten und verletzten Jungtiere hermachen. Füchse, Waschbären und Marderhunde nutzen die Dämmerung und Nachtstunden zur Nachsuche. Sie alle geben den Jagdausübungsberechtigten die einzigen Hinweise auf das Geschehen und lassen eine ungefähre zahlenmäßige Erfassung der Verluste zu.

Auch Feldhäsinnen setzen (gebären) ihre ersten drei bis sieben Jungen des Jahres mit Vorliebe im Frühlingsgras. Dort verharren die Hasenkinder anfangs dicht aneinander geschmiegt in der Geburtssasse und warten, bis die Mutter bei Dunkelheit zum Säugen kommt. Nach wenigen Tagen verteilen sich die Junghasen in der Umgebung und suchen sich einzeln ihr Tagesversteck. Zum Säugen kommen sie kurzfristig wieder zusammen. Trotz dieser klugen angeborenen Taktik schaffen es mindestens 45 Prozent der Junghasen nicht, zu einem „Dreiläufer“, einem halb ausgewachsenen Tier heranzuwachsen. Das haben Wildbiologen in aufwendigen Feldstudien herausgefunden. Wie bei Rehkitzen ist der Anteil der durch den Mähtod betroffenen Junghasen, nicht nur im Frühjahr, besonders hoch.

Immer wichtiger im Rettungsbemühen von Jägern, Landwirten und Naturschützern, oftmals in Personalunion, wird der Einsatz von mit Infrarotkameras ausgestatteten Flugdrohnen. Private Eigentümer und zahlreiche Vereine, die eigens für die Tierrettung gegründet wurden, bieten ihre kostenlosen oder kostenpflichtigen Dienste dazu an. Seit diesem Frühjahr fördert die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums mit drei Millionen Euro die Anschaffung von Drohnen mit Wärmebildkameras und Home-Return-Funktion ab einer Akkulaufzeit von mindestens 20 Minuten mit 60 Prozent des Anschaffungspreises, höchstens mit 4000 Euro pro Gerät. Antragsberechtigt beim BLE bis zum 1. September sind eingetragene Vereine, deren Zielsetzung die Wildtierrettung ist. Pro Verein kann die Anschaffung von zwei Drohnen gefördert werden. Deren Preise reichen, je nach Ausstattung und Leistung, von etwa 3000 bis über 15000 Euro.

Für dieses Frühjahr kommt die Förderung für neue Vereine, deren Gründung einige Zeit in Anspruch nimmt, weitgehend zu spät. Doch es werden sich hoffentlich regional genügend Jäger in den Hegegemeinschaften und Landwirte, vielleicht in Zusammenarbeit mit den Freiwilligen Feuerwehren in den Dörfern und den Ortsgruppen der Naturschutzverbände, finden, um gemeinsam solche Vereine ins Leben zu rufen und Copterpiloten auszubilden. Denn es bedarf schon einiges Könnens, um – meistens in den frühen Morgenstunden, wenn der Unterschied zwischen Außentemperatur und Wärmeabstrahlung der Tiere größer als während des Tages ist – diese aufzuspüren.

Auch wenn das gelungen ist, bedarf es professioneller Herangehensweise: Das Jungwild muss, ohne mit menschlichem Geruch in Kontakt zu geraten, auf Grasbüscheln oder in einer damit ausgepolsterten Kiste aus den Gefahrenbereichen getragen und später dort wieder abgelegt werden, sofern noch ein Teil der Deckung erhalten wurde. Handschuhe allein, wie auch propagiert wird, reicht nicht, weil sie meistens schon vor dem Gebrauch mit Menschenduft „infiziert“ worden ist. Von dem Geschick des Drohnenpiloten und der Beschaffenheit und Dichte des Bodenbewuchses hängt es ab, wieviel Fläche erfolgreich pro Stunde abgesucht werden kann. Unter „Wildretter“ oder ähnlichen Begriffen gibt es im Internet zahlreiche Informations- und Kontaktmöglichkeiten.

C.-A.v.T.