Von den einen gehegt, von den anderen verfemt
Das Muffelwild ist nicht überall willkommen, aber in den meisten Bundesländern zum festen Bestandteil der Wildbahn geworden.
Erst der Blick durchs Fernglas verschafft Gewissheit. Die vierzehn rotbraunen Tiere, die sich ziemlich dicht gedrängt auf einem Feld mit aufwachsender Getreidesaat niedergelassen haben, sind keine Rehe. Als sie kurze Zeit später aufstehen und zum nahen Waldrand flüchten, gibt es keinen Zweifel mehr, denn ihre Körper sind wesentlich kompakter als die von Rehen: Es sind Mufflons, auch Muffelwild oder Wildschafe genannt. Sie hier im Kreis Herzogtum Lauenburg im südöstlichen Schleswig-Holstein anzutreffen, überrascht nicht nur an der Natur interessierte Spaziergänger, sondern auch manchen Jäger in der Region. Seit etwa zwei Jahren lassen sich die ursprünglich in diesem Teil Deutschlands nicht heimischen Tiere immer wieder mal blicken. Auf rund 50 ist der Bestand angewachsen. Die meisten sind die Nachkommen von einigen Mufflons, die ein Grundeigentümer zur "Rasenpflege" in seinem großen, nur teilweise eingezäunten Park angeschafft hatte. Normale Hausschafe, als deren Stammform die Mufflons gelten, erschienen ihm nach seiner Aussage dafür zu langweilig. Doch er hatte nicht mit der Fruchtbarkeit und dem Ausdehnungsdrang der anfangs halbzahmen Muffelschafe gerechnet. Jetzt haben sie sich in einem Umkreis von etwa 20 Kilometern ausgebreitet und damit eine kleine eigenständige Population gebildet. Sie ist das vierte lokal begrenzte Vorkommen im nördlichsten Bundesland.
Doch die "Gatterflüchtlinge" sollen nicht bleiben. Als nicht heimische Tierart, auch als Neozoen ("Neu-Tiere") bezeichnet, gehörten sie nicht in die norddeutsche Wildbahn, argumentieren viele Naturschützer. Gar von Faunenverfälschung ist bisweilen die Rede. Auch mancher Förster und Waldbesitzer ist nicht gut auf die wilden Schafe zu sprechen und selbst Jäger befürchten durch sie Nachteile für die angestammten Schalenwildarten. Oberste Jagdbehörden verfügen gebietsweise ihre Totalabschüsse. Es gibt indes auch Befürworter der Neusiedler, die in ihnen eine Bereicherung der Wildbahn und der Jagdstrecke sehen. Sie verweisen darauf, dass in fast allen Bundesländern, selbst in Berliner Jagdgründen, gebietsweise Mufflons in teilweise beachtlicher Zahl leben und als in die deutsche Wildbahn integriert gelten. Ein Blick auf die Jagdstrecken der vergangenen Jahre bestätigt das. Im Jagdjahr 2014/15 ( 1. April bis 31. März ) wurden bundesweit 8007 Tiere erlegt, 779 mehr als ein Jahr zuvor. Im Jagdjahr 1987/88 waren es erst 4.265 gewesen. Besonders wohl scheinen sich die Tiere in Mittelgebirgen und Heidelandschaften zu fühlen. Mit den höchsten Streckenzahlen können Thüringen, Brandenburg, Nordrhein Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Hessen aufwarten. Vom europäischen Gesamtbestand mit geschätzten knapp 100.000 Tieren leben in Deutschland etwa zehn Prozent in 100 bis 120 Teilpopulationen - im Vergleich zur Zahl des Rehwildes gerade mal rund zwei Prozent.
Die widerstreitenden Meinungen gelten einer Tierart, die von der Internationalen Naturschutz Union (IUCN) als gefährdet eingestuft wird und die es in Deutschland erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts in größerer Zahl gibt. Ob der Mufflon, der seinen aus dem Französischen stammenden Namen der unbehaarten hellen Nase verdankt, schon vor oder zwischen den Eiszeiten in Mitteleuropa heimisch war, ist umstritten. Belegt aber ist, dass "Ovis orientalis (ammon) musimon" als kleinster Vertreter des Orientalen Wildschafes innerhalb der Familie der Hornträger mit ihren mehr als 100 Arten auf den Inseln Korsika und Sardinien die Eiszeiten überlebt hat und von dort bereits im 16. Jahrhundert in große Jagdgehege, etwa bei Wien, gelangten. Doch eine systematische Ansiedlung mit der Hilfe von Aussetzungen begann erst seit 1902 unter anderem in Schlesien, in der heute niedersächsischen Göhrde und im Ostharz. Weitere Freilassungen erfolgten bis in die 1950er Jahre in verschiedenen Ländern. Heute ist das Aussetzen von Tieren verboten. Auch in anderen europäischen Staaten wurde Muffelwild ausgewildert. Vor allem in osteuropäischen Staaten wie Tschechien, Slowakei,
Rumänien, Polen, Ungarn und Bulgarien werden kapitale Widder (männliche Tiere) mit ihrem Gehörn, den "Schnecken", als Jagdtrophäen zum Abschuss angeboten. Auch in Österreich, Frankreich, Italien und anderen westlichen Ländern sind sie als Jagdwild bekannt. In Deutschland dauert die jährliche Jagdzeit vom 1. August bis zum 31. Januar.
Ab dem späten Herbst ist eine Verwechselung von Mufflons mit Rehen noch weniger möglich. Dann nämlich tragen die Tiere ihr graues bis fast schwarzes Winterhaar und auf den Flanken vieler männlicher Tiere leuchtet ein heller "Sattelfleck". Diese Kennzeichen sind auch ein Hinweis darauf, dass es sich um reinrassige Wildschafe handelt und nicht um solche mit den Genen von Hausschafen. Zu unerwünschten Kreuzungen von wilden und zahmen Schafen ist es früher immer wieder gekommen. Die "Bastarde" sind unerwünscht, denn sie haben die von Waldbesitzern und Förstern ungeliebte Angewohnheit zum "Schälen" - die Rinde von Bäumen abzufressen und damit Schäden anzurichten. Mufflons ohne fremdes Blut gelten als genügsam in ihren Nahrungsansprüchen und beschränken sich beim Äsen hauptsächlich auf Gräser, Saaten, Moose, Flechten und Blätter von Sträuchern.
Als Herdentiere neigen insbesondere die Schafe (Weibchen) mit ihren Lämmern und junge Widder dazu, in Rudeln zu leben. Sie lieben es, dicht gedrängt beieinander zu stehen, vor allem auch so zu fliehen. Das treibt
manchen Jäger auf einer Drückjagd zur Verzweifelung, denn er kann in der schnell vorbeilaufenden Menge von sich gegenseitig verdeckenden Körpern häufig keinen erfolgreichen Schuss mit der Kugel anbringen. Hinzu kommt, dass die wilden Muffelschafe besonders gut äugen (sehen) können und bereits auf große Entfernung einen Feind erkennen und die Flucht ergreifen. Die älteren Muffelwidder halten sich einzeln oder in kleinen Gruppen vom Frühjahr bis zum Herbst abseits und gesellen sich erst zur Paarungszeit im Oktober und November zu den Schafen. In der Brunft gehen sie nicht gerade zimperlich miteinander um. Wie auch die Angehörigen der in einer zoologischen Gattung mit ihnen zusammengefassten anderen Wildschafe, Böcke und Ziegen gehen sie mit ihren gehörnten Stirnplatten aufeiander los. Da kann es schon mal in den lichten Laub- und Mischwäldern, die sie als Einstände bevorzugen, gehörig knallen, wenn zwei Widder mit ihren starken Schnecken zusammenprallen. Solche Auseinandersetzungen um die Gunst der weiblichen Tiere ziehen sich mitunter länger als eine Stunde hin.
Anders als Hirsche und Rehe erneuern die Muffelwidder nicht jährlich ihr Gehörn. Ihre aus den Stirnzapfen wachsenden halbrund gebogenen Hörner, hohle Knochenschläuche, werden mit zunehmendem Lebensalter ihrer Träger immer länger und stärker. Weil sich ihr Wachstum zur Brunft und im Winter für einige Wochen verringert, lässt sich an den dadurch gebildeten Jahresringen das Alter der Tiere bestimmen. Mit acht bis zwölf Jahren tragen die Widder für den Jäger "reife Trophäen" mit einer Länge bis etwa 85 Zentimetern und einem Basisumfang von bis zu 24 Zentimetern. In freier Wildbahn leben sie selten länger, doch ist auch schon ein Lebensalter von 20 Jahren nachgewiesen worden. Mancher Bock geht daran zugrunde, dass seine Schnecken mit zunehmendem Alter mit ihren Spitzen in den Kopf hineinwachsen und zum qualvollen Tod führen. Das kann den Schafen, von denen ein geringer Teil ebenfalls - dünne und kurze - Hörner (Stümpfe) trägt, nicht passieren. Mit einem Körpergewicht von knapp 30 bis 40 Kilogramm sind die weiblichen Tiere etwa um ein Drittel leichter als ausgewachsene Böcke, die jedoch gelegentlich doppelt so schwer werden können.
Fünf Monate nach erfolgreicher Brunft, mithin häufig schon im März, setzt das Schaf ein Lamm. Doppelgeburten kommen auch vor, sind aber nicht wie bei manchen Hausschafrassen die Regel. Anfangs säugt das Schaf seinen Nachwuchs abseits vom Rudel, doch können die Lämmer schon im Alter von wenigen Tagen ihrer Mutter auf einer Flucht folgen. Sie werden von den älteren Tieren stets in der Mitte des Rudels gehalten. In der jüngeren Vergangenheit haben sich die nach Deutschland zurückgekehrten Luchse und Wölfe verstärkt als "Regulierer" des Muffelwildes betätigt. Im Harz registrieren Jäger einen starken Rückgang des Muffelwildbestandes, seitdem sich dort der Luchs dank eines Wiederansiedlungsprojektes erfolgreich vermehrt hat. Und in einigen neuen Bundesländern wird den Wölfen eine Abnahme der Wildschafe zugeschrieben. Gegen die Beutegreifer setzen die Muffelschafe ihre Wachsamkeit als stärkstes Abwehrmittel ein. Hat irgendetwas ihren Argwohn erregt, stehen sie minutenlang bewegungslos und vertrauen auf dieTarnfarbe ihrer Decke (Fell). Das Sehvermögen ihrer Augen gilt unter Jägern als legendär. Wittern sie Gefahr, stampfen sie mit ihren Hufen auf und stoßen kurze Pfiffe aus, bevor sie in dichter Formation abspringen. Manche Flucht indes mißlingt, wenn die "Schalen", die mit Horn bewehrten Hufe, ausgewachsen sind. Das geschieht nicht selten bei solchen Tieren, die vorwiegend auf weichem Waldboden leben. Wildschafe sind für den regelmäßigen Abschliff ihrer Schalen auf steinigen oder sandigen Boden angewiesen. Dort sind sie zudem besser vor häufigen durch Parasiten ausgelösten Krankheiten geschützt, von denen auch Schafzüchter ein Lied zu singen wissen. So wie sie die Moderhinke, eine infektiöse Klauenerkrankung ihrer Tiere, die auch das Muffelwild bedrohen kann, ständig fürchten müssen.
Natürliche Verluste gleichen die wilden Schafe mit einer intensiven Vermehrungsrate aus, der sie zeitweilig auch die relativ schnelle Verbreitung in manchen neu besiedelten Gebieten verdanken. Schon im Alter von acht Monaten können die weiblichen Lämmer erstmals trächtig werden und ein ein gutes Jahr nach ihrer eigenen Geburt ein Lamm zur Welt bringen. Doch die Sterblichkeit der Lämmer ist groß. Sie fallen am ehesten den Fressfeinden zum Opfer. Allerdings wissen die weiblichen Schafe auch ganz gut, wie sie ihre Jungen verteidigen. Mancher Jungwolf und Fuchs erleben ihr blaues Wunder, wenn eine Mufflonmutter mit ihren Vorderläufen auf ihn einschlägt und er nur noch sein Heil in der Flucht suchen
kann. C.-A.v.T.